Was ist Morbus Menière?

1. Definition und Pathophysiologie
Morbus Menière ist eine chronische Innenohrerkrankung, die durch eine abnorme Ansammlung von Endolymphe (Flüssigkeit) im membranösen Labyrinth des Innenohrs gekennzeichnet ist – der sogenannte Endolymphatische Hydrops. Dadurch werden Hör- und Gleichgewichtsorgan geschädigt, was zu den typischen Symptomen führt: rezidivierender Drehschwindel, Hörverlust, Tinnitus und Druckgefühl im Ohr.

Pathophysiologische Theorien:

Störung der Endolymphresorption im endolymphatischen Sack (vermutlich häufigste Ursache)

Überproduktion der Endolymphe

Autoimmunreaktionen (Innenohr-Autoimmunität)

Virale Entzündungen (z. B. Herpesviren)

Genetische Faktoren

Venöse Abflussstörungen des Innenohrs

2. Klinik
Hauptsymptome
Schwindelattacken: Plötzliche Drehschwindelanfälle mit Übelkeit, Erbrechen und Gleichgewichtsstörungen. Dauer meist 20 Minuten bis mehrere Stunden.

Hörverlust: Fluktuierend, anfangs meist auf tiefen Frequenzen und einseitig, später permanent.

Tinnitus: Ohrgeräusche, meist pulsierend oder rauschend, verstärken sich während Anfällen.

Ohrdruck: Völlegefühl oder Druckgefühl im betroffenen Ohr.

Verlauf
Prodromalphase mit leichten Beschwerden

Akute Phase mit Anfällen

Intervallphase mit teils persistierenden Symptomen

Spätphase mit chronischem Hörverlust und geringerem Schwindel

3. Diagnostik
Anamnese: Typische Episoden mit Drehschwindel, Hörverlust und Tinnitus

Audiometrie: Sensorineuraler Hörverlust, meist einseitig, tieffrequent

Vestibuläre Tests: z. B. Videonystagmographie (VNG), Kopfimpulstest

Elektrocochleographie (ECochG): Nachweis von Endolymphatischem Hydrops durch erhöhtes Summenaktionspotential

Bildgebung: Hochauflösende MRT zum Ausschluss von Tumoren (z. B. Akustikusneurinom) und zur Darstellung des Hydrops

Labordiagnostik: Ausschluss anderer Ursachen (z. B. neurologische Erkrankungen)

4. Evidenzbasierte Therapie
Konservativ
Salzarme Diät: Mindert die Flüssigkeitsansammlung im Innenohr

Betahistin: Häufig eingesetztes Medikament, das die Mikrozirkulation im Innenohr verbessert und die Schwindelattacken reduzieren kann (Dosis je nach Leitlinie, z. B. 24–48 mg täglich)

Diuretika: Helfen, die Flüssigkeitsmenge im Körper zu reduzieren

Antiemetika: Symptomatische Behandlung bei akuten Anfällen (z. B. Metoclopramid)

Vestibuläre Rehabilitation: Physiotherapie zur Verbesserung des Gleichgewichts und zur Kompensation von Schäden

Invasive Therapien
Intra-Tympanale Gentamicin-Injektion: Vestibulotoxisch, reduziert vestibuläre Funktion, um Schwindel zu kontrollieren, jedoch Risiko für Hörverlust

Intra-Tympanale Steroidinjektionen: Entzündungshemmend, zur Symptomreduktion bei Schwindel

Endolymphatische Sack-Dekompression: Operative Entlastung des Endolymphraums, um den Hydrops zu vermindern

Labyrinthektomie oder vestibuläre Neurektomie: Letzte Optionen bei therapieresistenten, schweren Fällen mit irreversibler Hörminderung

5. Aktuelle klinische Leitlinien (Auszug)
American Academy of Otolaryngology–Head and Neck Surgery (AAO-HNS), 2015

Diagnose basiert auf klinischer Trias: Schwindel, Hörverlust, Tinnitus

Betahistin empfohlen als Erstlinienmedikation

Salzarme Diät und Diuretika als unterstützende Maßnahmen

Intra-Tympanale Therapien bei therapieresistenten Fällen

Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (DGHNO), 2020

Diagnostik: Audiometrie, vestibuläre Tests, MRT empfohlen

Individualisierte Therapie nach Schweregrad und Patientenwunsch

Förderung von vestibulärem Training und Lebensstiländerungen

6. Aktueller Forschungsstand
Genetik
Studien zeigen, dass es bei etwa 10–20 {327f5251d0c1267f849e581da3181b723a91f4afad99aa8088d6f21cce5b8212} der Patienten familiäre Häufungen gibt.

Verschiedene Genvarianten werden auf ihr Potenzial hin untersucht, den Krankheitsmechanismus zu beeinflussen.

Immunologie
Hinweise auf autoimmunologische Komponenten im Innenohr

Experimentelle Therapien mit Immunsuppressiva und Biologika sind in Erprobung

Bildgebung
High-Resolution-MRI mit spezieller Kontrastmitteltechnik (z. B. 3D-FLAIR) kann den Endolymphatischen Hydrops sichtbar machen und unterstützt die Diagnose.

Molekulare Therapieansätze
Entwicklung von Medikamenten zur Regulierung des Ionentransports und der Endolymphhomöostase.

Gentherapie und Stammzelltherapie zur Regeneration der Haarzellen ist ein vielversprechender, aber noch experimenteller Ansatz.

Biomarkerforschung
Suche nach Blut- oder Liquormarkern für frühe Diagnose und Verlaufsprognose läuft.

7. Praktische Empfehlungen für Patienten
Ernährung mit Salzreduktion und Vermeidung von koffeinhaltigen und alkoholischen Getränken

Regelmäßige ärztliche Kontrolle der Hör- und Gleichgewichtsfunktion

Nutzung von Hörhilfen bei dauerhaftem Hörverlust

Stressreduktion und ausreichend Schlaf, da Stress Schwindelattacken begünstigen kann

Bei akuten Schwindelattacken Ruhe bewahren, sich hinlegen und Umgebung sichern